Bei der Militärparade am Vormittag blickte Gorbatschow symbolträchtig auf seine Uhr: Honecker erkennt die Zeichen der Zeit nicht.imago/Sven SimonDie Geschichte arbeitet gegen die SED, die sich Reformen verweigert. Ein Foto, das bei der Parade der Nationalen Volksarmee in der Karl-Marx-Allee am Vormittag des 7. Oktober entsteht, verdeutlicht die Zeichen der Zeit: Gorbatschow guckt auf seine Armbanduhr, der neben ihm stehende Honecker macht dazu gute Miene. „Mein Eindruck war nicht der beste“, schreibt Gorbatschow in seinen „Erinnerungen“, die 1995 auf Deutsch erschienen. Seine Gespräche mit führenden Politikern der SED enthielten zur aktuellen Lage und zu den künftigen Perspektiven „fast nichts“.Während der Militärparade ist Siegfried Pasternak, der Chefgastronom des Palasts der Republik, mit den letzten Vorbereitungen für das Staatsbankett beschäftigt, das um 18 Uhr beginnen soll. Ein Empfang von solcher Größe, „da muss ja alles auf die Minute laufen“, sagt er 2009 in einer Reportage des Deutschlandfunks. Auf der Menükarte stehen unter anderem Zuchtwachtelbrüstchen auf Maispurée, Putensuppe mit Pistazienknödel und ein Filetensemble.Vorbereitungen ganz anderer Art laufen in mehreren Städten der DDR: Tausende Bürger wollen den 40. Jahrestag der Republik nutzen, um für Reformen zu demonstrieren. Am Nachmittag gehen allein in Plauen (Sachsen) schätzungsweise 15.000 Menschen auf die Straße – ein Fünftel der Stadtbevölkerung. Es wird die erste Großdemonstration in der Geschichte der DDR, die Staatssicherheit und Volkspolizei nicht auflösen können.Es dämmert, als klar wird, dass auch in Ost-Berlin etwas gehörig schiefgeht. Auf dem Alexanderplatz haben sich Dutzende Männer und Frauen unter die Feiernden gemischt, um, wie an jedem 7. eines Monats, gegen die Wahlfälschung zu protestieren. Unbeteiligte solidarisieren sich mit ihnen. Unter den Augen von Sicherheitskräften formiert sich zwischen 17 und 17.30 Uhr ein Demonstrationszug mit mehreren Tausend Teilnehmern. Ihr Ziel: der etwa 15 Fußminuten entfernte Palast der Republik.
Dort haben sich inzwischen mehrere Hundert Gäste eingefunden: hohe Politiker, kirchliche Würdenträger und verdienstvolle Bürger. In der Mitte des Großen Saals steht eine sechseckige Tafel für das Ehepaar Honecker und seine 22 Ehrengäste, neben den Gorbatschows auch Palästinenserführer Jassir Arafat und der rumänische Staatschef Nicolae Ceaucescu, der nicht ahnt, dass ihm nur noch wenig Lebenszeit bleibt – er wird im Dezember 1989 gestürzt und mit seiner Ehefrau hingerichtet. Um diese Tafel herum sind Tische für jeweils sechs Personen angeordnet. Im Hauptfoyer ist für weitere Gäste gedeckt. Und auf allen Etagen des Hauses sollen Künstler die Festgesellschaft unterhalten.Klaus Taubert hat im Großen Saal Platz 406 zugewiesen bekommen. Als Chefreporter der DDR-Nachrichtenagentur ADN soll er Honeckers Toast, den er zur Eröffnung des Staatsbanketts sprechen wird, mit dem Redemanuskript abgleichen, gegebenenfalls Veränderungen vornehmen und den Text dann zur Veröffentlichung freigeben. Ein Routinejob für Taubert, aber er ist beunruhigt, denn durch die Glasscheiben im Foyer hat er gesehen, wie sich am gegenüberliegenden Spreeufer auf dem Marx-Engels-Forum Demonstranten drängen. „Ohne Übertreibung: Mir stockte das Blut“, schreibt er 2010 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Polizisten versuchen, die Menge zurückzudrängen; die ruft „Wir sind das Volk!“ und „Gorbi, Gorbi, hilf uns!“
An seinem Tisch liest Taubert die Menükarte. Seine Augen fallen auf das Dessert „Surprise“ – er hält das für „einen makabren Scherz des Chefkochs“. Um sich herum beobachtet er Gäste, die miteinander tuscheln. „Alle, so scheint es, beobachten sich gegenseitig.“ Zudem sieht er „Männer, die was zu sagen haben“ hin und her laufen. Die „bizarre Atmosphäre“ nähert sich ihrem Höhepunkt, als Honecker und Gorbatschow unter Applaus zu ihrem Tisch schreiten und nebeneinander Platz nehmen. Vor ihnen stehen Gläser und Teller sowie Schalen mit Äpfeln und Weintrauben. Honecker erhebt sich mit einem Manuskript in seinen Händen und beginnt, daraus vorzulesen. Seine Stimme ist brüchig.„Er ringt sich die Sätze förmlich ab“, erinnert sich Klaus Taubert. Plötzlich bemerkt der Reporter, dass Honecker mehrere Seiten des Manuskripts übersprungen hat. Dessen Toast endet mit den Worten: „... auf die internationale Solidarität, auf den Frieden und das Glück aller Völker, auf den 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik!“ Höflicher Applaus, klirrende Gläser. Aus dem einen oder anderen von Honecker ausgelassenen Satz hat Taubert Reformbereitschaft gelesen, so in diesem: Man sei „zu qualitativ neuen Schritten auf allen gesellschaftlichen Gebieten imstande, um die Herausforderungen der neunziger Jahre zu bewältigen“.Es gilt jetzt, das Staatsbankett zu bewältigen, denn die Demonstration vor dem Palast ist vielen Gästen auf den Magen geschlagen. Allen voran den Gorbatschows. Die Kellnerin Sabine Schumann hat das Ehepaar gut im Blick, wie sie in dem Dokumentarfilm „Palast der Gespenster“ von 2019 erzählt. Sie beobachtet, wie die beiden sich kurz unterhalten, sich umgucken, betroffen schauen, aufstehen und, nachdem Gorbatschow sich kurz an Honecker gewandt hat, weggehen. Der komme gleich wieder, glaubt eine Kollegin, es stehe hier schließlich noch Essen „für Tausende“.
Kurz bevor Gorbatschow mit seiner Frau tuschelte, war ein Vertrauter an ihn herangetreten und hatte ihm etwas zugeflüstert. „Achtung, Gorbatschow kommt raus!“, hört Roland Albrecht, der sich zu diesem Zeitpunkt im Hauptfoyer aufhält, jemanden rufen. Der Politiker und seine Frau seien „im Eiltempo“ an ihm vorbeigerauscht und in ein vorgefahrenes Auto gestiegen.In seinen „Erinnerungen“ erwähnt Gorbatschow mit keiner Silbe, dass er das Bankett fluchtartig verließ. „Unsere Mutmaßung war“, sagt Albrecht mit Bezug auf die Situation vor dem Palast, „dass er nicht dabei sein wollte, falls Schüsse fallen.“Gegen 20 Uhr verlässt Gorbatschow Ost-Berlin „mit gemischten Gefühlen“, wie er später schreibt. „Unvergeßlich ist mir das Bild jenes Stroms Tausender junger Deutscher, die nach Veränderungen drängten. Das gab Anlaß zu Hoffnung und Optimismus.“Eindeutige Gefühle indes hat Siegfried Pasternak, der Chefgastronom des Palasts. „Eine furchtbare Angelegenheit“ sei das gewesen, dass sich der Hauptgast „nur kurz an den Tisch setzt und an dem ganzen Menü nicht mehr teilnimmt“, klagt er in der Reportage im Deutschlandfunk. „Da kam mir das Grauen."
Kaum ist Gorbatschow im Himmel über Berlin, gibt Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, den Befehl, gegen die Demonstranten hart durchzugreifen. Die „Sicherheitsorgane“ setzen Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke ein, durchsuchen Wohnungen, nehmen im Laufe des Abends und der Nacht 547 Menschen fest.Der Pianist Andrej Hermlin schlendert gegen 22 Uhr in den Großen Saal. Zuvor hat er zwei Stunden lang mit seiner Swingband im Lindenrestaurant des Palasts gespielt. Er sieht „viele Leute zur Musik irgendeiner Schlagerkapelle“ tanzen, schreibt er 2009 in der taz, und Tische, „an denen vereinzelt Ballgäste saßen“. Am großen Tisch in der Mitte des Saals „saß nur ein einziger Mann: Erich Honecker“. Der habe in Richtung Bühne gestarrt, „völlig abwesend“.Als alle Gäste gegangen sind, beginnt das Aufräumen. Sabine Schumann, die Kellnerin, fragt sich: Wohin mit all den Leckerbissen, die übrig geblieben sind? Der Anblick führt sie und und ihre Kollegen in Versuchung, davon zu kosten. Da tritt „ein Anzugträger“ an sie heran („wir wussten immer, die sind von der Stasi“) und sagt: „Das schmeißen Sie jetzt lieber mal weg.“ – „Alles?“ – „Alles!“
Zehn Tage später zwingt das Politbüro Erich Honecker zum Rücktritt. Gut drei Wochen darauf fällt die Mauer.Menüfolge beim Staatsbankett zum 40. Jahrestag der DDR7. Oktober 1989, Palast der Republik1. GangZuchtwachtelbrüstchen auf MaispuréeForellenröllchen mit Dillsauce und LachskaviarSchaumbrot von RäucherzungeWeißgebäck2. GangPutensuppe (extra stark) mit Pistazienklößchen und Tomatenroyal3. GangFiletensemble Trianon:Kalbsfilet mit SchinkenduxellesRinderfilet mit GemüsebukettHühnermédaillons mit PfirsichhälfteMadeirasauce und Kartoffelspezialitäten4. GangDessert „Surprise“:Verschiedene Eisspezialitätenauf Schokoladen-Marzipan-BiscuitMokkaGetränkeDDR-Sekt (Palast-Cuvée)DDR-Weine (Saale-Unstrut und Meißen)Kasoff-WodkaWilthener Feiner Alter WeinbrandEdelliköre und Spezialbiere der DDR
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